Die Mutter der Performance-Kunst in Bonn
Marina-Abramović-Retrospektive in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
„tock ––––– Tock –––– TOck ––– TOCk –– TOCK –– TOCKK –––––––––– TOCK – TOCKK – TOCKKK – TOCKKKK – TOCKKKKK – TOCKKKKKK“
Diese stakkato-artigen Töne beherrschen den ersten reinen Schmerz-Raum der Ausstellung. Sie sind aufgezeichnet worden während einer Performance, in der die Abramović mit den unterschiedlichsten Messern das Spiel mit sich selber spielt, das Jedem aus alten Western-Saloons geläufig ist: in immer schneller werdenden Folgen sticht sie das Messer in die Zwischenräume zwischen den Fingern ihrer gespreizten linken Hand, die auf einem Holzstück unbeweglich ruht – wenn’s gut läuft. Wenn’s nicht ganz so gut läuft, treibt sie sich die Klinge mit voller Wucht ins eigene Fleisch. Erst lange nach dem ersten akustischen Reiz wird der Ausstellungsbesucher die optische Aufarbeitung dieser Performance gewahr: riesige überlebensgroße grobkörnige Silbergelatineabzüge der Hand und der verschiedenen zum Einsatz gekommenen Messer.

Am Ende dieses Teils hängt ein neunteiliges Tableau von Fotografien mit dem im ersten Moment und im direkten Kontrast nachgerade harmlosen Titel „Coming and Going“: hier ist der Schmerz sehr subtil inszeniert. Eine Atempause zum Luftholen, bevor man sich nach links wendet und das inszenierte Tisch-Stillleben mit Stuhl, Rotwein, Metronom, Honig – und Lederpeitsche vor den Video-Projektionen auf sich wirken lässt.

Wer den Videobildern der Selbstkasteiung fliehen will, wird hinter der nächsten Trennwand empfangen von einem Monitor, der einem in Endlosschleife die Performance „Art must be beautiful – The artist must be bautiful!“ in Ton und Bild entgegenschleudert: manisches Kämmen des Haupthaares – bis aufs Blut. Auffallend viele weibliche Besucherinnen verweilen geduldig und gebannt vor dieser Installation.

Rhythm 0
Gerade einmal 26 Jahre alt, geht Marina 1974 in Neapel mit ihrer Performance „Rhythm 0“ auf’s Ganze und liefert sich mit Haut und Haar ihrem Publikum aus. Vorbereitet hat sie 72 Objekte, die gleichsam wie auf einem Altar bereitliegen, um sie an der Künstlerin nach eigenem Gutdünken zu benutzen. Darunter eine rote Rose, Rotwein, Pflanzenöl und eine Federboa. Jedoch auch Stahl- und Eisenketten, Fleischermesser, Fuchsschwanz, ein Beil und nicht zu Allerletzt eine Pistole mit Kugel. Im erklärenden Begleittext spricht sie im Vorfeld jede/n an dieser Performance teilnehmende/n BesucherIn von Konsequenzen für ihr/sein Handeln frei und übernimmt die volle Verantwortung. Nun… sie hat’s überlebt; dem Vernehmen nach jedoch auch nur knapp und weil jede einzelne der „Rhythm 0„-Performances nach nicht allzu langer und immer vor der Zeit abgebrochen wurde.

Ulay

Im nächsten Jahr lernt Marina einen der prägendsten Männer ihres Lebens kennen: Ulay – ebenfalls wie sie selbst an einem 30. November im Sternkreiszeichen des Schützen geboren. 1977 kaufen sie gemeinsam einen alten Bus und werden die nächsten drei Jahre in diesem Vehikel nomadisch um die Welt ziehen. Nicht ohne ein gemeinsames Manifest zu verfassen:
ART VITAL
Kein fester Wohnsitz
Permanent in Bewegung sein
Direkter Kontakt
Lokaler Bezug
Selbstbestimmung
Grenzüberschreitung
Risikobereitschaft
Bewegliche Energie
Keine Proben
Kein festgelegtes Ende
Keine Wiederholung
Noch größere Verletzlichkeit
Abhängigkeit vom Zufall
Unmittelbare Reaktionen
Mit ihren gemeinsamen „Relation Works“ widmen sie sich dem Verhältnis zwischen Mann und Frau – losgelöst von ihrer persönlichen Beziehung – auf archaische Art und Weise. Das Potenzial von negativer und positiver Energie erwählen sie sich genauso zum Thema wie die völlige Abhängigkeit und absolutes Vertrauen zwischen zwei Menschen.
1988 trennen sich die Wege der Beiden, jedoch haben die Arbeiten von „UlayundMarina“ bis heute eine ungebrochene Relevanz und beeinflussen immer noch neue Generationen von Kunstschaffenden.
The Cleaner ist nur noch sechs Tage in Bonn zu Gast: bis zum 12. August! Dann geht es weiter ins italienische Florenz.
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